Einleitung
Die Auseinandersetzung mit den Erscheinungen am Himmel, dem Kreislauf von Tag und Nacht, dem Licht der Sonne und der Gestirne fand in allen Hochkulturen statt. Die seefahrenden skandinavischen Völker lernten durch die geographische Lage ihrer Reiche im hohen Norden den Himmel anders kennen als die Kulturvölker im Süden und entwickelten so auch eine eigenständige Astronomie.
In der auf die Besiedlung Islands im 9.Jhd. folgenden Epoche kultureller und literarischer Hochkultur entstanden detaillierte Aufzeichnungen, in denen uns dieses Wissen überliefert wurde. In den skandinavischen Ursprungsländern ging durch die Christianisierung ein Großteil der Schriften und Bräuche verloren.
Richtungsastronomie
Ein erster Hinweis auf astronomische Kenntnisse ist die Ausrichtung von Gebäuden und Kultstätten nach den Himmelsrichtungen.
Das nordische Richtungsbild beruhte auf der Beobachtung des vollen Kreislaufs der Sonne mit Höchststand im Süden und Tiefststand im Norden. Die flachere Lage der Sternbahnen in den nördlichen Breiten und die starke Veränderung von Auf- und Untergangspunkt der Sonne während des Jahres ließen anders als in südlichen Kulturen die Nord-Süd-Richtung, den Meridian, zur Hauptrichtung werden.
Die Himmelsrichtungen spielten einerseits in der Mythologie eine wichtige Rolle, so wurden z.B. die Gebete zu þor gegen Norden gesprochen, andererseits war ihre Kenntnis auch für das praktische Leben von Bedeutung. In der nach norwegischem Vorbild auch in Island eingesetzten Volksversammlung, dem sogenannten Þing, bei dem nicht nur Gericht gehalten wurde, sondern auch die Gesetze verkündet, wichtige Entschlüsse getroffen und Handel getrieben wurde, war die NS-Richtung von großer Bedeutung. Der Vorsitzende befand sich stets im Norden, und der gesamte Gerichtsgang fand in dieser Richtung statt. Der Ruf des Klägers kam vom Süden, der Beklagte betrat das Gericht von Norden (Eine detaillierte Beschreibung liefert die Njálssaga). Eide wurden gegen Süden geleistet, und die Vollstreckung der Acht mußte bei ,,Sonne im vollen Süd„ verkündet werden.
Diese Ausrichtung muß also deutlich erkennbar gewesen sein. Tatsächlich sind die bis heute erhaltenen Grundrisse der Buden des Þingeyarþings NS ausgerichtet. Die gleiche Ausrichtung ist auch auf dem Platz des Leiðarnesþing zu erkennen. Auch Þingvellir, der Ort, an dem jedes Jahr das Alþing abgehalten wurde, weist eine NS-Ausrichtung auf.
Der Beginn dieses wichtigen Ereignisses war auf den Donnerstag, zehn Wochen nach dem Sommertag, dem längsten Tag des Jahres, an dem der Oberrand der Sonne hier (geographische Breite 64°N) um 22 Uhr 32 in NNW unter- und um 1 Uhr 28 in NNO wieder aufgeht, festgesetzt. Daneben war auch die Regelung des Gerichtsganges genau nach dem zeitlichen Lauf der Sonne geregelt. Um Willkür auszuschließen, wurde als Bezugspunkt der Sitz des Gesetzessprechers gewählt, das heißt eine ortsgebundene Zeitbestimmung eingeführt.
Die Messung der Polhöhe
Der einzige überlieferte Bericht über Messung von Sternpositionen betrifft die Höhe des Polar- oder Leitsterns.
Er findet sich um 1150 in dem Reisebericht des Geistlichen Nicholás, dem späteren Abt von Munkaþverá in Nordisland. Nicholás fuhr als Pilger in den Nahen Osten, um im Jordan das Taufbad Christi nachzuvollziehen. Zurück in Island schreibt er:
,Draußen am Jordan, wenn ein Mann liegt offen auf flachem Felde und setzt sein Knie auf und die Faust darauf und hebt den Daumen von den Fäusten auf, da ist der Leitstern darüber zu sehen, gleichhoch und nicht höher.
Die Messung ist erstaunlich genau. Die geographische Breite der betreffenden Gegend nördlich des Toten Meeres beträgt etwa 31°50′ und ist ja nichts anderes als die Polhöhe. Da die Proportionen des menschlichen Körpers für alle Menschen etwa gleich sind, haben Kålund und unabhängig von ihm Reuter die Messung nachvollzogen und kamen auf einen Wert von etwa 32°.
Das Liegen am Rücken ist dabei typisch nordisch. Entstanden aus der Anbetung ors, wird es uns nicht nur von Nicholás überliefert, sondern auch die Grön- und Vinlandfahrer legten sich zur Messung, allerdings der Sonnenhöhe hin.
Abgesehen vom mythologischen Ursprung hat das Liegen noch praktische Vorteile: die Knie bilden einen künstlichen Horizont, der Körper kann recht genau in NS-Richtung ausgerichtet werden, und in hohen Breiten erleichtert es die Messung zenitnaher Sterne.
Die Zählungen des Oddi Helgason
Im 12.Jhd. wurden in Island eine Reihe von himmelskundlichen Beobachtungs- und Rechnungsergebnissen aufgezeichnet, die unter dem Namen Oddis Zählung („Odda tala“) bekannt sind. Sie werden Oddi Helgason, auch Stjornu-Oddi genannt, zugeschrieben. Der Wortlaut dieser Beobachtungsreihen findet sich im älteren Teil der altisländischen Handschriften Nr. 1812 in der Alten Königlichen Sammlung zu Kopenhagen als 20. Abschnitt, der wiederum in drei Unterabschnitte geteilt ist. Allen drei ist gemeinsam, daß die überlieferten Beobachtungen lediglich die Sonne betreffen und weder vom Mond noch von den Sternen die Rede ist, deren Beobachtung Oddi ja seinen Beinamen gab.
Von astronomischer Bedeutung ist vor allem der zweite Abschnitt, der das Steigen und Fallen der Mittagshöhen der Sonne im Laufe des Jahres wiedergibt.
Die von Reuter gegebene Übersetzung des Originaltextes beschreibt den Sachverhalt wie folgt:
§63. Der Sonne Gang wächst zur Sicht um ein halbes Rad (Oddi bezeichnet den scheinbaren Sonnendurchmesser als Rad) der Sonne in der ersten Woche nach den Sonnwenden. In der 2. Woche wächst er um ein ganzes Rad, in der 3. Woche um anderthalb; in der 4. um zwei ganze, in der 5. um zweieinhalb, in der 6. um drei, in der 7. um dreieinhalb, in der 8. Woche um vier ganze, in der 9. um viereinhalb, in der 10. um fünf, in der 11. um fünfeinhalb, in der 12. um sechs, in der 13. um sechseinhalb, in der 14. ebenfalls um sechseinhalb. Da wächst am meisten in jenen beiden Wochen der Sonne Gang, weil das ist Mittstätt der Sonnwenden, und es wird der Wochen Begegnung 4 Nächte nach Gregoriustag. In der 15. Woche wächst der Sonne Gang um sechs ganze Räder, in der 16. um fünfeinhalb, in der 17. um fünf ganze, in der 18. um viereinhalb, in der 19. um vier, in der 20. um dreieinhalb, in der 21. um drei, in der 22. um zweieinhalb, in der 23. um zwei, in der 24. um eineinhalb, in der 25. um ein Rad, in der 26. um ein halbes Rad. Da ist er zu den Sonnwenden im Sommer gekommen, und es schwindet in solchem Maße der Gang der Sonne, so wie er eben nach seinem Wachsen gezählt ist. Im Herbst ist Kreuztag in Mittstätt der Sonnwenden.
Oddi maß also die höchste Erhebung der Sonnenbahn über dem Südpunkt in der Sommersonnwende und bestimmte den Abstand zur tiefsten Sonnenbahn am Mittag der Wintersonnwende auf das 91-fache des scheinbaren mittleren Durchmessers der Sonne. Die Reihe 1/2+2/2+3/2+4/2+… ergibt am Ende der 26. Woche 182/2=91 Sonnendurchmesser.
Der Ort der Messungen liegt in Nordisland. Oddi wohnte in Múli im Reykjadalur, er beobachtete aber auch von Flatey (Breite 66°10′) im Skjálfandi aus. Ausschlaggebend für das Gelingen der Messung war die Festlegung der Nord-Süd-Richtung. Das Verfahren dazu war in Island bekannt.
In der Wintersonnwende, von der die arithmetische Reihe ausgeht, stand, von Flatey aus gesehen, der scheinbare Unterrand der Sonne 35′, der scheinbare Oberrand 1°07′ über dem Südpunkt. Die Zählung beginnt am Ende der ersten Beobachtungswoche und stellt ein Anwachsen der Mittagshöhe um 1/2 Rad fest. In Wirklichkeit war die Sonne nur um 10’=1/6 Rad gestiegen. Die Mittagshöhen betrugen für den scheinbaren Oberrand der Sonne am Ende der ersten Woche 1°18′, am Ende der zweiten 1°51′, der dritten 2°46′, der vierten 4°02′, der fünften 5°37′ und am Ende der sechsten Woche 6°29′. Von der SO-Ecke Flateys aus gesehen erheben sich aber die im Süden liegenden Berge Hágöng etwa 2 bis 5 Grad über den Meeresspiegel. Das heißt, Oddi konnte erst in der dritten Woche nach der Sonnwende mit seinen Messungen beginnen, bzw. etwas früher, sofern Oddi seine Beobachtungen vom Þórðarsteinshorn aus machte.
Die Sonnenhöhen gewann Oddi durch direkte Beobachtung, was bei der schrägen Bahn der Sonne auf dieser Breite und der dortigen Witterungsverhältnisse leicht und ohne Blendung möglich ist. Für die Zeit des Höchststandes hat Oddi eventuell auch eine durchsichtige Tierhaut zum Abblenden verwendet, was im alten Norden durchaus üblich war.
Vergleicht man Oddis Werte mit den wahren zurückgerechneten Daten, so zeigen sich geringfügige Unterschiede, die vermutlich weniger in Fehlern der Beobachtung liegen, sondern wahrscheinlich eher in einer vorgefaßten Ansicht vom Sonnengang, d.h. in einer ,,Berichtigung„ der Werte zu Gunsten eines gleichmäßigen Sonnenganges und Anpassung an eine arithmetische Reihe zu suchen sind.
In jüngster Vergangenheit wurde darüber spekuliert, ob Oddi bereits das sogenannte Mezzaluna-Theorem vorwegnahm (Roslund 1986), das eine Approximationsmethode zur Teilung des Halbkreises darstellt und bei Schiffsbauern der italienischen Renaissance zur Anwendung kam. Teilt man den Halbkreis in 2n gleiche Teile, dann wachsen die Parallelen zum Durchmesser durch diese Halbkreisteilungen von der obersten bis zur Basis im Verhältnis 1:2:3:…:n.
Die besondere Leistung Oddis ist aber die Tatsache, daß er als Maß für seine Messung den Halbmesser der Sonne verwendete und nicht Daumen oder Fuß, wie sie in Indien oder im griechischen Altertum zur Anwendung kamen. Rechnet man aus der Abweichung auf den von Oddi verwendeten scheinbaren Sonnenhalbmesser zurück, so erhält man einen Wert von 15.5 Bogenminuten, was mit der Wirklichkeit von 15.8 im Sommer bzw. 16 im Frühling recht gut übereinstimmt. Das ist umso bemerkenswerter, als daß im 12. Jhd. im Abendland ein mehr als dreimal so großer Wert von 1°40′ angegeben wird.
Ort der veröffentlichung
Mitteilungen der Österreichisch-Isländischen Gesellschaft in Wien, 2-94, pp:7-9, 1994.
Literatur
- H. Karttunen, P. Kröger, H. Oja, M. Poutanen und K. H. Donner(Hrsg.), Astronomie, Springer-Verlag, 1990
- Otto Siegfried Reuter, Germanische Himmelkunde, J. F. Lehmanns Verlag, München, 1934
- Curt Roslund, Sun tabels of Star-Oddi in the Icelandic sagas, in World archaeoastronomy, selected papers from the 2nd Oxford International Conference on Archaeoastronomy in Mexico, editor A. F. Aveni, Cambridge University Press, 1986